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Nerv verletzt - was tun?

Veröffentlicht am 7/15/2021
Illustration von Gesichtsnerven und Muskeln

Nerven sind die Datenautobahnen des Körpers. Sie leiten unter anderem Bewegungsbefehle des Gehirns an die Muskeln weiter, oder transportieren die Wahrnehmung von Augen, Ohren, Haut und anderen Sinnen zum Gehirn. Wird ein Nerv blockiert oder durchtrennt, bricht an der Unfallstelle der Informationsfluss zusammen. Bis das Nervensystem eine Umleitung organisiert hat, vergeht viel Zeit. Und häufig erreicht die neue Nervenbahn nicht die Leistungsfähigkeit ihres Vorgängers – falsche Abfahrten inklusive.

Eine Nervenzelle steht über Verästelungen mit anderen Zellen in Kontakt

Schauen wir uns zunächst eine einzelne Nervenzelle an. So verschieden Nervenzellen oder Neuronen auch aussehen können, gleichen die meisten einem Baum oder Strauch. So wie ein Baum Wurzeln und Zweige aufweist, weist auch das Neuron unterschiedliche Arten von Verästelungen auf, die von seinem Zellkörper ausgehen. Sie heißen Dendriten und Axone.

Über die fein verzweigten Dendriten, aber auch über den Zellkörper, empfängt eine Nervenzelle Signale von anderen Zellen. Die ankommenden Impulse fließen dann über das Axon an weitere Neuronen und andere Körperzellen. Das Axon ähnelt über weite Strecken einem Stamm ohne Äste und verzweigt sich erst im weiteren Verlauf in immer feinere Fortsätze. Motoneuronen leiten über ihre Axone Bewegungsbefehle des Gehirns an Muskeln weiter. Ihre verästelten Enden treffen auf einzelne Muskelfasern, die sich zusammenziehen, sobald sie über das Motoneuron einen Impuls erhalten.

Ein geschädigter Nerv führt zu Lähmungen oder Taubheitsgefühl

Durch Entzündungen, Operationen oder Unfälle können Nerven geschädigt oder sogar durchtrennt werden. Impulse vom und zum Gehirn können dann nicht mehr fließen. Muskeln, die bislang über den geschädigten Nerv Bewegungsbefehle erhalten haben, bleiben bewegungslos. Und Hautbereiche, die der Nerv zuvor mit dem Gehirn verbunden hat, werden gefühllos wie bei einer lokalen Betäubung.

Neue Nervenfortsätze können alte Funktionen wiederherstellen

Die Taubheitsgefühle und Lähmungserscheinungen müssen nicht von Dauer sein. Zwar stirbt ein Nervenzweig ab, wenn er abgetrennt wurde oder eine vorübergehende Belastung zu schwerwiegend war. Der Zellkörper und die verbleibenden Verästelungen des Neurons haben jedoch gute Überlebenschancen. Auch hier ähnelt das Neuron einem Baum. Bricht ein Sturm einen Ast aus der Baumkrone heraus, stirbt zwar der Ast, aber nicht der Baum. Und so, wie bei einem Baum an der Bruchstelle neue Zweige sprießen und nach und nach die Krone wieder auffüllen können, kann auch das Neuron am Ort der Zerstörung neue Nervenenden wachsen lassen. Dieser Vorgang heißt Regeneration.


Heilung in Zeitlupe

Neuronen können vom Dendrit bis zum letzten Zipfel eines Axons sehr lang werden; manche Nervenzellen außerhalb des Gesichts erreichen sogar mehr als einen Meter Länge. Dennoch wachsen neue Zellfortsätze mit nur einem Millimeter pro Tag nur sehr langsam nach. Die Regeneration des verletzten Gesichtsnerven zieht sich daher häufig über viele Monate hin, Operationen am Nerv können die Heilung um weitere Wochen verzögern. Je nach Schwere der Verletzung kann mehr als ein Jahr vergehen, bis die Hirnsignalen über den neu gebildeten Nervenfortsatz wieder zu einem Muskel vordringen. Diese neuronalen Neuvernetzung oder Reinnervation gelingt nicht immer einwandfrei. Häufig treffen die neuen Nerven an anderer Stelle auf den Muskel als ihre Vorgänger oder verbinden sich sogar mit andere Muskeln. Dann führen Hirnsignale zu ungewollten Bewegungen.


Motorneuron: neu gewachsen, falsch vernetzt?

Die neu wachsenden Nervenenden folgen niemals ganz genau dem Verlauf des abgestorbenen Nervs, sondern ersetzen ihn nur ungefähr. Das kann bei einem Nerven, der für Muskelbewegung verantwortlich ist, unangenehme Folgen haben. Mitunter steuern neu gewachsene Axone nun mehr Muskelfasern an als zuvor – die so genannte motorische Einheit des Neurons wird größer. Manchmal verlagert sich eine motorische Einheit auch. Das bedeutet, dass das Neuron Befehle des Gehirns nicht nur, aber auch an die falschen Muskelfasern sendet. In beiden Fällen lassen sich Bewegungen weniger genau steuern.

Im Gesicht, wo schon Muskelarbeit im Millimeterbereich einen neuen Ausdruck formt, führt dies zu einer gröberen oder sogar verzerrten Mimik. Außerdem geraten diese größeren motorische Einheiten unter Dauerstress. Während sich früher einzelne Muskelfasern in einem Bereich abwechseln konnten, erhalten nun immer alle Fasern gleichzeitig einen Bewegungsbefehl. Eine solche ständige Massenbewegung ermüdet die Muskelfaserbündel und führt zu Verspannungen oder gar Schmerz.


Synkinesie als Folge neu gewachsener Nervenfortsätze

Eine weitere mögliche Folge der neu ausgesprosster Axone sind Synkinesien. So werden unbeabsichtigte Mitbewegungen von Muskeln genannt, wenn sie auf Impulse reagieren, die für andere Muskeln bestimmt waren. Impulse für die eigentlich beabsichtigte Mimik lösen dann unbeabsichtigte Mitbewegungen in anderen Gesichtsbereichen aus. Typische Mitbewegungen sind etwa das Schließen der Augen, sobald sich die Lippen beim Sprechen spitzen, oder Zuckungen im Wangenbereich, die jedes Blinzeln begleiten. Diese Erscheinungen prägen sich erst Monate nach der Nervschädigung aus. Ursache der geschilderten Symptome sind Nervenfasern, die früher ausschließlich den Mundbereich gesteuert haben, jetzt aber im Verlaufe der Regeneration teilweise zu anderen Muskelgruppen, etwa zum Auge, ausgesprosst sind.

Einmal gewachsen, bleiben die fehlgeleiteten Nervenfasern dauerhaft an Ort und Stelle. Aber die  möglichen Fehlfunktionen sind im Vergleich zur Alternative, keine Nervenbahn Richtung Muskel zu haben, das kleinere Übel. Schließlich kann das Gehirn mit einer geeigneten Therapie lernen, wie es die neu gewachsenen Axone ansteuern muss, damit die Synkinesien gehemmt oder gelindert werden können.

Neben den Aufbau eines Neurons beschreibt dieser Artikel die kritische Phase der fehleranfälligen Heilung von Nervenzellen nach einer Verletzung ihrer verzweigten Zellfortsätze. Mit denen stehen Nervenzellen untereinander in Verbindung, aber auch zu Sensorzellen und Muskelfasern. Werden die feinen Verbindungen durch Krankheit oder Unfall unterbrochen, sterben die abgetrennten Fortsätze ab, während die Zelle selbst überlebt. Während der neuronalen Regeneration sprießen frische Axone und vernetzen sich neu mit Muskelfasern. Diese Reinnervation stellt leider nur selten den Urzustand wieder her.

Bild des Autors

Sabina Hotzenköcherle